Barockhaus
Neißstraße 30
02826 Görlitz
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelten sich innerhalb der protestantischen Kirche verschiedene, von christlicher Spiritualität geprägte Frömmigkeitsbewegungen. Nicht das festgefügte kirchliche Ritual, sondern das innere Berührtsein, die Ergriffenheit des Menschen von Gott und der christlichen Botschaft wurden als zentraler Punkt des Glaubens gesehen. Der aus Regensburg stammende Jurist Johann Georg Gichtel (1638–1710) nahm diese Gedanken für eine Kritik an der Amtskirche zum Anlass, was zu einer Ausweisung aus seiner Heimatstadt führte. Mit seinen radikalen Ideen eines weltabgewandten Christentums fand er schließlich im religiös toleranten Amsterdam eine Zuflucht. Die Beschäftigung mit Mystik und Spiritualität führte ihn zum Werk Jacob Böhmes (1575–1614). Im Jahr 1662 veröffentlichte er die erste Gesamtausgabe der Schriften des Görlitzer Philosophen. In seinem Umfeld sammelten sich bald Gleichgesinnte, die im Jahr 1668 eine sich streng von der Kirche getrennt haltende Hausgemeinschaft gründeten. Die von Außenstehenden »Gichtelianer« Genannten, bezeichneten sich selbst als Engelsbrüder bzw. -schwestern. Die Ideale der Gemeinschaft bestanden vor allem im Bewusstsein einer exklusiven Gottesbeziehung durch die geistige Vereinigung mit Jesus in Gestalt der himmlischen Sophia und der Ablehnung jeglicher Form von irdischer Lust. Nach Gichtels Tod sammelte der Kaufmann Johann Wilhelm Überfeld (1659–1731) in Leiden dessen Anhänger. Die Leidener Hausgemeinschaft wurde zum Vorbild für weitere Gründungen u. a. in Berlin, Magdeburg, Dresden, Weimar und Nordhausen sowie in Dänemark und der Schweiz. In ihrem Selbstverständnis sahen sie sich als Erben der Theosophie Jacob Böhmes und Johann Georg Gichtels. Eine der wenigen, noch im 20. Jahrhundert bestehenden deutschen Gemeinschaften, befand sich in Linz am Rhein. Dort lagerte auch das überaus wertvolle Archiv der Engelsbrüder mit den Originalhandschriften Jacob Böhmes sowie hunderten Briefen und Abschriften der Gründer Gichtel und Überfeld.
Die selbst gewählte Abgeschiedenheit der »Gichtelianer« in Linz am Rhein hatte dazu geführt, dass nichts über den von ihnen gehüteten Schatz bekannt war. Mehr als 200 Jahre galten die Originale aus Böhmes Feder als verschollen und auch von den reichen Brief- und Büchersammlungen war nichts an die Öffentlichkeit gedrungen. Als aber unter den Nationalsozialisten jene Glaubensgemeinschaften, die nicht deren weltanschaulichen Vorgaben entsprachen, ins Visier der Machthaber gerieten, blieb davon auch die Linzer Gemeinschaft nicht verschont. Reinhard Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei ordnete für den 9. Juni 1941 eine »Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften« an. Im Dezember 1941 erreichte die Stadtverwaltung Görlitz ein Bericht des Pfarrers i. R. Heinrich Wilhelm Brandt aus Linz über die Beschlagnahme der Sammlung von Böhme-Freunden. Der Görlitzer Ratsarchivar Friedrich Pietsch, von der Nachricht regelrecht elektrisiert, erreichte im Juni 1942 von Staatspolizei Koblenz und Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Berlin die Erlaubnis zur Besichtigung der Sammlung. Dabei stellte sich allerdings das Fehlen der wichtigsten Originale von Böhmes Hand heraus. Diese befanden sich, wie später bekannt wurde, zur Bearbeitung in den Händen des Böhme-Forschers Wilhelm Goeters. Als die Gefahr der Bombardierung von Berlin durch alliierte Luftstreitkräfte immer bedrohlicher wurde, willigte das RSHA im September 1943 ein, die Bestände nach Görlitz zu übersenden. Zwar erreichten die in 43 Kisten verpackten Bücher und Handschriften im November 1943 ihren Zielort, jedoch mehr als kurz den Inhalt festzustellen und die Sammlung in sicher geglaubte Depots außerhalb von Görlitz zu verbringen, war nicht mehr möglich. Als der Krieg im Mai 1945 endete, lagerten große Teile des Linzer Archivs östlich der Neiße auf nunmehr polnischem Territorium. Sie wurden nach Breslau/Wrocław verbracht und befinden sich heute in der dortigen Universitätsbibliothek. Ein umfangreicher Bestand der Sammlung aber kehrte nach Görlitz zurück und bildet heute einen der wichtigsten Bestände zur Rezeption Jacob Böhmes. Die Originale der Schriften Jacob Böhmes jedoch fanden weder den Weg nach Breslau oder nach Görlitz. Bedingt durch die deutsche Teilung nach 1945 gelangten diese wertvollen Manuskripte in die Obhut der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.
Nach ihrer Rückkehr blieben die Restbestände der Sammlung über viele Jahrzehnte unbearbeitet und damit unbeachtet. Zwar wurden sie in der 1951 gegründeten Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften (OLB) sicher verwahrt, eine Benutzung war aber aufgrund der ungeordneten Unterbringung in einem großen barocken Dielenschrank unmöglich. Für tausende Briefe und Abschriften und mehrere hundert Bücher fehlten jegliche Findhilfsmittel bzw. Katalogeinträge. Erstmals im Jahr 1998 wurde im Rahmen einer Ausstellung auf den hier lagernden Schatz aufmerksam gemacht. Durch eine Publikation erfuhr nun auch die wissenschaftliche Welt von den hier vorhandenen Zeugnissen der Engelsbrüder. Anlässlich der Jacob-Böhme-Ehrung 1999/2000 rückte der Bestand erneut in das öffentliche Bewusstsein. Aus dieser Präsentation entwickelte sich eine Kooperation der OLB mit der Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam, dem Jacob-Böhme-Institut Görlitz e.V. und der Universitätsbibliothek in Breslau mit dem Ziel, dieses einmalige Material zu erschließen und zu verzeichnen. Mehr als 5.000 Handschriften galt es zu ordnen und die jeweiligen Verfasser bzw. Adressaten zu ermitteln. Allein für Johann Jakob Überfeld ließen sich 270 Originalbriefe und rund 12.000 Abschriften und Exzerpte feststellen. Mit mehr als 3.000 Katalogeinträgen erfolgte die Erschließung der Büchersammlung. Die in einem separaten Datenpool abgelegten Informationen konnten jetzt über den Online-Katalog der OLB recherchiert werden. Zum Abschluss des Projektes fand im Oktober 2007 ein internationales Symposium in Amsterdam statt. Ein dazu erschienener Aufsatzband lieferte nun endlich den gewünschten Überblick zur Verbreitung und Überlieferung der Schriften Jacob Böhmes.
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Der Besuch der Sonderausstellung ist im regulären Ticket für das Barockhaus, sowie unseren Kombitickets enthalten.